Erwartungen an die Hörgeschädigtenpädagogik

von Ulrich Hase

Vorbemerkung 1

Zu verschiedenen Anlässen werde ich immer wieder darum gebeten, zu meinen Erwartungen an die Hörgeschädigtenpädagogik zu referieren. Man möchte von meinen ganz persönlichen Eindrücken als von Kindheit an hochgradig Hörgeschädigter wissen, außerdem interessieren meine Erfahrungen aus zahlreichen Kontakten zu hörgeschädigten Menschen, die ich in den letzten 25 Jahren meiner ehrenamtlichen und beruflichen Tätigkeit mit schwerhörigen, ertaubten und gehörlosen Menschen gewonnen habe.

An dieser Stelle sollen die Grundgedanken meiner Vorträge oder Statements zum oben genannten Thema dargestellt werden. Sie sind nicht empirisch belegt, gehen jedoch deutlich über den Horizont meiner persönlichen Situation hinaus. Sie sollen zum Nachdenken oder zur Diskussion anregen.

Vorbemerkung 2

Wir wissen um deutliche Verbesserungen der Förderung gehörloser und schwerhöriger Kinder und Jugendlicher: Hörschädigungen werden immer früher erkannt und sicherlich wird sich diese Situation in den nächsten Jahren deutlich verbessern. Digitale Hörgeräte, das cochlea implant und neue Methoden der Hörgeschädigtenpädagogik haben erheblich zur Entwicklung und Förderung der auditiven Wahrnehmung beigetragen. Es ist unbestritten, dass sich hierdurch in den letzten Jahren völlig neue Chancen zur Verbesserung der kommunikativen Situation junger Hörgeschädigter eröffnet haben. Ebenso unbestritten ist, dass die Hörgeschädigtenpädagogik diese Chancen mit dem Ziel der bestmöglichen Förderung Ihrer Schülerinnen und Schüler wahrnimmt.

Dennoch kann ich das Erreichte nicht ausschließlich positiv werten. Der Blick soll hier auf Bereiche gerichtet werden, in denen ich Handlungsbedarf sehe. Diese werden in 5 grundsätzlichen Positionen dargestellt und begründet.


(1) Hörbehinderung wird trotz optimaler Förderbedingungen bestehen bleiben!
Hörgeschädigtenpädagogik sollte deshalb die Dominanz hörgerichteter Orientierung kritischer betrachten und den Aspekt, dass Kommunikation gefährdet bleibt, stärker in den Vordergrund ihrer Arbeit stellen.

Die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Schulen für Gehörlose und Schwerhörige ist in Deutschland im letzten Vierteljahrhundert um über 2000 auf ca. 9000 zurückgegangen. Diese Entwicklung schreitet fort. Besuchten noch bis Ende der achtziger Jahre etwa zwei Drittel der Hörgeschädigten eine Gehörlosenschule, so hat sich dieses Verhältnis inzwischen zugunsten der Schwerhörigenschule genau umgekehrt (1). Gehörlosenschulen nehmen immer weniger Gehörlose auf (die Zahl der Gehörlosen nimmt ab, Gehörlose mit C.I. fallen in der Wahrnehmung aus ihrer ursprünglichen Bezugsgruppe heraus), sie verschmelzen mit Schwerhörigenschulen zu Hörgeschädigtenschulen oder – förderzentren und ganz aktuell zu Zentren Hören und Kommunikation. Darüber hinaus werden immer mehr schwerhörige, aber auch resthörige und gehörlose Menschen, in Regelschulen integriert. Diese Tendenz nimmt zu. Das sich allmählich durchsetzende bildungspolitische Ziel, schulische Integration als Regelfall zu gestalten und Förderzentren zu Zentren bzw. Schulen ohne Schülerinnen und Schüler zu entwickeln, wird erkennbar.

Diese Entwicklung ist auf den ersten Blick als Fortschritt und wünschenswerte Veränderung der Situation hörgeschädigter Menschen zu interpretieren.
Sie impliziert die Erwartung, dass junge hörgeschädigte Menschen dank des Fortschritts immer besser zurecht kommen und Hörbehinderung als gravierendes Problem der Kommunikation bzw. Interaktion immer weniger in Erscheinung tritt.
Aber ist das Vertrauen pädagogischen Handelns mit Konzentration auf Hören und Spracherwerb nicht auch trügerisch?

Hierzu einige grundsätzliche Beobachtungen aus meiner Arbeit mit erwachsenen, auch jungerwachsenen, Hörgeschädigten:
Besonders in meiner Rehabilitationsarbeit habe ich immer wieder feststellen müssen, dass hörgeschädigte Menschen in ihrem beruflichen und sozialen Alltag größere Kommunikationsschwierigkeiten haben als es „Schonraum-Situationen“, das können die Familiensituation, Schulen, das direkte persönliche Gespräch oder auch Untersuchungen beim Arzt oder Hörgeräteakustiker sein, erwarten lassen. Tatsächlich scheinen Fachleute und Eltern sehr leicht in die Situation zu geraten, die Kommunikationskompetenz ihrer Kinder zu überschätzen (2). Hiermit stimmt überein, dass mir vor Rehabilitationen zugeleitete Gutachten zur Situation von schwerhörigen Menschen immer wieder deren Kommunikationskompetenz deutlich positiver als es tatsächlich der Realität entsprach darstellten.

Hörgeschädigte Menschen leiden darunter, wenn sie trotz modernster technischer Hilfen und trotz besseren Hörens nicht den Kommunikationserfolg erzielen können, der ihnen von fachlicher Seite prophezeit worden war. Sie erleben ihr Nichtverstehen als persönliches Versagen und mitunter auch technische Innovationen als Druck. Auf diesen Druck reagieren viele, indem sie ihre Umwelt gerade nicht auf ihre Probleme ansprechen, sondern viel mehr versuchen, den Erwartungen zu entsprechen und routiniert Verstehen „vorzutäuschen“, womit sie wiederum häufig wider besseres Wissen die belastenden Fehleinschätzungen fördern.

Wir wissen darüber hinaus auch, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen, deren Hör- und Sprechentwicklung, z.B. trotz C.I., unbefriedigend verläuft, nicht unerheblich ist. So gewinne ich den Eindruck, dass diese Gruppe im Hinblick auf die Entwicklung alternative Ansätze zu wenig Beachtung erfährt. Ganz deutlich wird dieses in der Vorstellung, dass die Förderung mit Gebärdensprache erst dann ansetzen soll, wenn eine ausschließlich lautsprachliche Förderung nicht den gewünschten Erfolg bringt. Die Folge, dass Jahre erfolgreicher gebärdensprachlicher Förderung auf diese Weise verloren gehen kann, wird stillschweigend akzeptiert.

Steht auch Hörgeschädigtenpädagogik unter einem „Fortschritts-Erfolgsdruck“? Und unterliegt sie ähnlich der Situation hörgeschädigter Menschen dem psychologischen Phänomen, „Misserfolge“ nicht akzeptieren zu können?

Was wir uns vor Augen führen sollten ist: Hörbehinderung wird trotz optimaler Förderbedingungen bestehen bleiben! Dieses trifft insbesondere auf dem Hintergrund der in unserer Gesellschaft zunehmenden Anforderungen an Kommunikationskompetenz zu.
Ich halte es deshalb für eine wichtige Aufgabe der Hörgeschädigtenpädagogik, die Dominanz hörgerichteter Orientierung immer wieder kritisch zu hinterfragen und den Aspekt, dass Kommunikation gefährdet bleibt, stärker in den Vordergrund zu stellen. Das bedeutet keinen Widerspruch zum Fortschritt, sondern ergänzt ihn.


(2) Die Angebotsstruktur von Sonderschulen einerseits und schulischer Integration andererseits wird dem Bedarf nicht gerecht.
Hörgeschädigtenpädagogik sollte sich auf den Weg machen, alternative Lösungsansätze pädagogischer Förderung zu entwickeln.

Ich erwähnte es: immer mehr hörgeschädigte junge Menschen werden in Regelschulen integriert. Diese Entwicklung stellt auch eine selbstverständliche Konsequenz der aktuellen gesellschaftlichen wie sozial- und bildungspolitischen Grundprinzipien Integration, Normalität und Teilhabe dar und erfuhr auch durch die Ergebnisse der PISA-Studie (3) Rückenwind. Denn gerade in den Ländern sind überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt worden, in denen überwiegend integrierte Schulsysteme bestehen. Die Studie belegt, dass Leistungen der Schwächeren in der Integration besser sind als die vergleichbarer Schülerinnen und Schüler an speziellen Schulen und dass gute Schülerinnen und Schüler nicht schlechter abschneiden als in leistungsdifferenzierten Klassen. Sie zeigt auch auf, dass die Sonderschulbesuchsquote in Deutschland (11 europäische Länder haben bessere Ergebnisse als Deutschland) besonders hoch ist.

Ich finde es wichtig, dass hörgeschädigte Menschen möglichst früh gemeinsam mit nichtbehinderten Menschen lernen. Dennoch betrachte ich das „Integrations-Bemühen“ insbesondere im Hinblick auf die Situation hochgradig hörgeschädigter, resthöriger oder gehörloser Schülerinnen und Schüler auch kritisch.

Findet Integration statt, wenn hörgeschädigte Menschen unter erheblichem Druck und dem diffusen Gefühl des dennoch „Andersseins“ am gemeinsamen Unterricht mit Nichtbehinderten teilnehmen? Findet Integration z.B. auch dann noch statt, wenn Schülerinnen und Schüler im Freizeitgeschehen isoliert bleiben?

Einschätzungen des jeweiligen Integrationserfolges geschehen überwiegend mit Blick auf unterrichtsbezogene Leistungsaspekte. Machen wir uns genügend deutlich, dass junge Menschen mit Hörschädigung häufig im Unterricht durchaus zurechtkommen und im Gegensatz dazu am informellen Kommunikationsgefüge der Pausensituation scheitern?

Aus eigener Erfahrung an Regelschulen weiß ich, wie ich mich trotz relativ guter schulischer Leistungen mit meiner Hörschädigung uneins und isoliert gefühlt habe:
Ich wollte wie die anderen sein. Meine Hörschädigung stand mir dabei im Weg, mit der Konsequenz, dass ich sie leugnete - und dadurch meine Situation noch erschwerte.

Wir wissen, wie wichtig es ist, gegenüber unseren Mitmenschen auf die Hörschädigung hinzuweisen und entsprechendes Verhalten abzufordern. Aber wir wissen auch, wie schwer es ist, Hörschädigung transparent zu machen! Und noch viel schwerer ist es, als junger hörgeschädigter Mensch zur eigenen Behinderung Zugang zu finden und deshalb kaum in der Lage zu sein, den eigenen Leidensdruck Eltern und anderen Bezugspersonen mitteilen zu können.

In der Zeitschrift Hörgeschädigtenpädagogik, Ausgabe: Februar 2002, befasst sich Flöther (4) mit Integration. Er geht auf die „personale Integration“ ein und führt hierzu aus: Eine normale Identitätsentwicklung sei dann möglich, wenn Hörschädigung durch den hörgeschädigten Menschen selbst und seine Kontaktpersonen akzeptiert wird. Dies sei Voraussetzung dafür, dass Kommunikationshilfen kompetent genutzt werden können. Das ist richtig, aber wie finden junge hörgeschädigte Menschen Akzeptanz, wenn sie mit ihrer Hörschädigung allein bleiben, wenn sie keine Chance haben, sich mit anderen ähnlich Betroffenen auszutauschen und dadurch Zugang zu sich selbst zu finden? M.E. setzt Akzeptanz von Hörschädigung zwingend die durch den Kontakt zu anderen Hörgeschädigten ermöglichte Auseinandersetzung „mit sich selbst in dem anderen Ähnlichen“ voraus, als Grundlage für spätere erfolgreiche Interventionen zur Gestaltung von Kommunikation gegenüber guthörenden Menschen.

Schulische Integration verfehlt ihr Ziel, wenn sie die Erfahrung untermauert, ein vielleicht sogar die eigene Hörschädigung leugnender „Einzelkämpfer“ zu sein! Kontakte zwischen hörgeschädigten jungen Menschen in Integrationsmaßnahmen dürfen nicht dem Zufall überlassen bleiben. Verantwortliches pädagogisches Handeln ist dazu aufgerufen, diese gezielt zu organisieren!

Eine Angebotsstruktur mit den „Extremen“ Sonderschule unter Verzicht auf das Miteinander mit guthörenden Menschen und schulische Integration unter Verzicht auf Erfahrungen mit hörgeschädigten Menschen ist höchst problematisch.
Ich bedauere es deshalb sehr, dass kaum weitere Modelle zur schulischen Förderung hörgeschädigter Schülerinnen und Schüler zur Verfügung stehen.

An dieser Stelle ist auf ein weiteres und viel zu wenig beachtetes Problem hinzuweisen:
Hörgeschädigte Menschen, die nicht bereits in der Schule die Erfahrung gewonnen haben, wie hilfreich das Miteinander mit ähnlich Betroffenen sein kann, haben im späteren Erwachsenenalter nur schwer Zugang zu dieser Erfahrung. Viele verbinden mit dem erfolgreichen Abschluss einer Regelschule den Eindruck, ihre Behinderung erfolgreich überwunden zu haben. Nun doch nach vielfältigen einschneidenden Erfahrungen des Alltags den Wunsch nach Kontakt mit ebenfalls Hörgeschädigten zu wünschen, stellt sich für sie allzu leicht als Stigma persönlichen Versagens dar. Die auf diese Weise entstandene Blockade verhindert den Zugang zu persönlichen Hilfen, Ausgleich bzw. Entlastung unter Ähnlichbetroffenen, - mit der Folge, dass sie schlimmstenfalls in die Isolation geraten und/oder psychosomatische Beschwerden entstehen.
Der Deutsche Schwerhörigenbund hat trotz der erheblichen Überzahl schwerhöriger Menschen in Deutschland erheblich weniger Mitglieder als der Deutsche Gehörlosen-Bund. Das liegt nur zum Teil daran, dass viele schwerhörige Menschen mit ihrer Umwelt so gut zurechtkommen, dass sie kein Bedürnis nach ihrer Gemeinschaft empfinden. Wesentliche weitere Gründe sind gerade auch wie oben beschrieben mangelnde Kontakterfahrungen zu anderen Schwerhörigen und nicht selten auch die Angst vor Begegnungen mit anderen Schwerhörigen. Im Gegensatz hierzu steht die Situation Schwerhöriger oder Gehörloser, die eine Hörgeschädigtenschule besucht haben. Denn viele von ihnen sind in entsprechenden Selbsthilfegruppen, sie haben bereits in der schulischen Förderung das sie stützende Miteinander erfahren können.

Auf diese Weise birgt Integration die Gefahr des Verlustes späterer Stützmechanismen, mit der zusätzlichen Folge, dass das Entstehen einer einflussreichen politischen Interessenvertretung hörgeschädigter Menschen erschwert wird.
Auch aus diesem Grund halte ich die Entwicklung von alternativen integrativen Ansätzen in der schulischen Förderung für Hörgeschädigte für wichtig.

Ein Beispiel stellt die Integration einer größeren Anzahl hörgeschädigter Jugendlicher in eine Regelschule dar, wie ich es z.B. von einer High School in Leeds (England) kenne. Hörgeschädigte erfahren hier Integration im doppelten Sinne: Sie haben die Möglichkeit, sich mit anderen Hörgeschädigten auszutauschen, erhalten spezielle Förderangebote und lernen gleichzeitig gemeinsam mit guthörenden Gleichaltrigen, denen wiederum Gebärdensprachkurse angeboten werden.
Dieses Modell würde wohl nur in Ballungsgebieten erfolgreich sein können. Denn Eltern wünschen sich auch deshalb die schulische Integration, um ihre Kinder zu Hause behalten zu können und nicht in Internate abgeben zu müssen.

Eine enge Kooperation von Regel- und Hörgeschädigtenschulen in Form von Schulpartnerschaften mit schulübergreifendem Unterricht in verschiedenen Fächern halte ich ebenfalls für einen Ansatz, der verfolgt werden könnte.

Einen wohl besonders praktikablen Weg schlagen Schulen bzw. Förderzentren (z.B. in Schleswig-Holstein) ein, die Seminarwochenenden zur Begegnung junger integrierter hörgeschädigter Menschen anbieten. Diese beinhalten u.a. Erfahrungsaustausch, Kommunikationsschulung, Rollenspiele und Begegnungen mit erwachsenen Hörgeschädigten. Ich begrüße Initiativen zu solchen Seminaren sehr. Leider finden diese Maßnahmen jedoch nur sporadisch in Abhängigkeit zur Anmeldesituation statt. Auch hier gewinne ich den Eindruck, dass sich Schülerinnen und Schüler aus den oben aus der Sicht Erwachsener beschriebenen Gründen (sich mangels anderer Erfahrungen den Sinn dieser Seminare nicht vorstellen können, Ängste) nicht zu solchen Maßnahmen anmelden.
Meiner Auffassung nach sollte dieses überaus wichtige Angebot nicht dem guten Willen überlassen bleiben. Ich halte es für wichtig, es auf der Basis fundierter Konzepte zum selbstverständlichen Pädagogik und Schülerinnen/ Schüler verpflichtenden Bestandteil hörgeschädigtenpädagogischer Arbeit weiter zu entwickeln.

Worauf den Themenbereich Integration abschließend hingewiesen werden soll:
Meines Erachtens steht das Bemühen um schulische Integration in keiner Weise in ausgewogenem Verhältnis zur Vorbereitung der Lehrerinnen und Lehrer an Regelschulen auf die hieraus folgenden neuen Herausforderungen. Es ist dringend notwendig, dass sich sowohl im Hochschulbereich als auch in der Lehrerfortbildung Integrationspädagogik als verpflichtender Lehrstoff durchsetzt. Die Vorbereitung von Lehrerinnen und Lehrern auf die Kommunikationssituation und – bedürfnisse hörgeschädigter Schülerinnen und Schüler ist unbedingt notwendig. Dieses zeigen mitunter erschreckende Beispiele dafür, wie sich Lehrerinnen und Lehrer durch unreflektierte Vorurteile leiten lassen.


(3) Hörgeschädigte Erwachsene haben eine wichtige Bedeutung zur Förderung der hörgeschädigten Schülerinnen und Schüler. Hörgeschädigtenpädagogik sollte deshalb den Einsatz von hörgeschädigten Hörgeschädigtenpädagogen nicht dem Zufall überlassen sondern gezielt anstreben.

Für Eltern hörgeschädigter Kinder ist es wichtig, dass sie erwachsenen hörgeschädigten Menschen begegnen. Wenn sie erleben, dass diese ein glückliches und erfolgreiches Leben führen und es mit Hörschädigung in den Griff bekommen, so verringern sich Ängste. Dieses verhilft zu einer realistischen Perspektive und führt dazu, dass Hörschädigung leichter akzeptiert werden kann.
Ähnliches gilt für hörgeschädigte Kinder, für die erwachsene Hörgeschädigte im Sinne von Identifikation wichtige Modelle sind.
Und natürlich können erwachsene Hörgeschädigte auch fachlich kompetente Ansprechpartnerinnen und – partner sein, die insbesondere zur Entwicklung von Akzeptanz und Bewältigungsstrategien beitragen und dazu unterstützen, dass sich „fortschrittsorientierte“ Hörgeschädigtenpädagogik bedarfsgerecht gestaltet.
Auch Hörgeschädigtenpädagoginnen und – pädagogen benötigen den ständigen Austausch mit ihnen.
Es sollte deshalb selbstverständlich sein, dass hörgeschädigte Menschen nicht nur als Adressaten pädagogischen Bemühens, sondern auch als gleichberechtigte Partner verstanden werden.

Ich freue mich darüber, dass immer mehr schwerhörige oder gehörlose Studenten in Hörgeschädigtenpädagogik, aber u.a. auch in Sozialpädagogik oder Psychologie, ausgebildet werden und ihre Aufgabenfelder finden. Dennoch stellen sie noch zu oft Ausnahmen dar. Leider beobachte ich in der jüngsten Zeit, dass sich die Aussichten für schwerhörige oder gehörlose Lehramtsanwärter auf eine Lehrerstelle aus Gründen zunehmender Integrationsbemühungen, aber auch aufgrund der defizitären öffentlichen Haushaltslage verschlechtern.

Ich plädiere deshalb dafür, dass sich Einrichtungen der Hörgeschädigtenpädagogik zum Ziel setzen, die Erfüllung der Schwerbehinderten-Beschäftigungsquote in Höhe von 5% durch die Anstellung hörgeschädigter Fachleute zu erreichen.



(4) Die Anerkennung der Gebärdensprache eröffnet neue Chancen für hörgeschädigte Menschen.
Es ist Aufgabe der Hörgeschädigtenpädagogik, auf diese Situation zu reagieren.

Neue Gesetze (Sozialgesetzbuch IX, Bundesgleichstellungsgesetz, Landesgleichstellungsgesetze) haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass gehörlose aber auch hochgradig hörgeschädigte Menschen in unterschiedlichen Situationen einen Anspruch auf die Finanzierung von Gebärdensprachdolmetscherinnen oder – dolmetschern haben. Hinzu kommt die Möglichkeit, Schriftmittler einsetzen und finanzieren zu können.
Endlich hat die Gebärdensprache, die über viele Jahrzehnte vernachlässigt worden ist, auch in Deutschland den verdienten rechtlichen Rückhalt.

Damit ist eine Basis dafür gegeben, dass sich Gebärdensprache, und mit ihr lautsprachbegleitende Gebärden, als wesentliches Element zur Teilhabe und Integration hörgeschädigter, nicht nur gehörloser, Menschen entwickeln kann. Denn mittels des Dolmetschens werden Kommunikationsräume erschlossen werden, die bisher versperrt geblieben sind.

Statistiken der Dolmetsch-Zentralen belegen, dass immer mehr hörgeschädigte Menschen die sich aus Gebärdensprache ergebenden Chancen zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation erkennen. Dieses gilt für den Umgang mit Behörden, den Gesundheitsbereich, vielfältige andere Kommunikationssituationen und gerade auch in Berufsbereichen, in denen ein besonders hoher Kommunikationsbedarf besteht.

Die Polarisierung, wer lautsprachlich nicht zurechtkommt, benötigt Gebärdensprache, die anderen kommen ohne sie aus, ist schon lange nicht mehr aktuell! Vielmehr wird erkannt, dass es darauf ankommt, je nach Kommunikationssituation selbstbewusst entscheiden zu können, ob über Lautsprache Grenzen erreicht werden und ob Gebärdensprache ihren Einsatz findet.

Hieraus erwachsen Herausforderungen an die Hörgeschädigtenpädagogik. Auch die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zum Förderschwerpunkt Hören von 1996 (5) treffen hierzu eindeutige Aussagen.

Wir benötigen nun eine Angebotsstruktur, die von freiwilligen Gebärdensprachkursen, einem verpflichtenden Unterrichtsfach Gebärdensprache bis hin zu bilingualen Modellen reicht.

Und wir benötigen Fachkräfte, die Gebärdensprache beherrschen, sie unterrichten und in ihr unterrichten können.
Der Besuch einzelner Seminare an Hochschulen reicht für die Vorbereitung solcher Fachkräfte nicht aus. Es ist dringend erforderlich, dass sich Studierende der Hörgeschädigtenpädagogik in der Ausrichtung ihres Studiums für Pädagogik der Gebärdensprache als eigenständigem Fach entscheiden können, das sie einschließlich Didaktik, Methodik und Geschichte der Gebärdensprache studieren und in dem sie geprüft werden.



(5) Hörgeschädigte Menschen sind zu wenig auf die kommunikativen Herausforderungen des Alltags vorbereitet. Dieses betrifft vor allem den beruflichen Bereich.
Neue Konzepte sowohl für die Förderung in Hörgeschädigtenschulen als auch in der Integration sind notwendig.

Soll Kommunikation hochgradig hörgeschädigter Menschen im Alltag, insbesondere im beruflichen Umfeld, erfolgreich sein, so reicht es nicht aus, wenn die hörgerätetechnische Versorgung optimal ist. Die immer wieder durchdringende Auffassung, schwerhörige Menschen kämen grundsätzlich ausschließlich mit Hörgeräten zurecht, während gehörlose Menschen Gebärdensprache und ertaubte Menschen Schriftmittler benötigten, ist realitätsfremd und einseitig. Ein gehörloser Mensch wird natürlich häufiger als schwerhörige Menschen Gebärdensprachdolmetscher benötigen. Das heißt jedoch nicht, dass schwerhörige Menschen ganz auf sie verzichten können. Ich habe z.B. nicht auf das Erlernen der englischen Sprache verzichten müssen, nur weil ich diese vielleicht zu 0,5 % meines Sprachumfangs benötige? Tatsächlich halte ich den Ansatz, je nach Art der Hörschädigung unterschiedliche Hilfen zuzuordnen bzw. auszuschließen, nicht nur für falsch, sondern sogar für diskriminierend.
Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, wer welche Hilfe benötigt. Vielmehr sollten Hörgeschädigte in die Lage versetzt werden, je nach Anforderung unterschiedliche Hilfen einsetzen zu können.
Dazu ist Voraussetzung, dass sie auf breiter Basis auf kommunikative Anforderungen vorbereitet werden.

Nur ein Beispiel: Hochgradig hörgeschädigte Menschen, die in verantwortlicher beruflicher Position im Einzelgespräch oder Kleingruppengespräch gut mittels Hörgerät und Konferenzanlage sowie des Absehens versteht, können jedoch in einer Konferenz mit mehr Beteiligten scheitern. Sie sind jedoch dann erfolgreich, wenn sie in solchen Situationen eine Gebärdensprachdolmetscherin, die durch das jeweilige Integrationsamt finanziert wird, hinzuziehen.
Ebenso kann es im privaten Bereich sein, dass von Schwerhörigen eine Feier mit vielen durcheinander sprechenden Guthörenden als Stress empfunden, jedoch über Gebärdensprache in Selbsthilfegruppen einen wichtigen Ausgleich erlebt wird. So kann für diesen Personenkreis Gebärdensprache eine höhere Bedeutung haben als das Erlernen von Fremdsprachen.

Meines Erachtens fehlt in der schulischen Förderung ein offener Zugang, der allen unterschiedliche Kommunikationshilfen vermittelt, ohne dass schon im Vorwege eine Einschränkung vorgenommen wurde. Kommunikationserfolg wird hier, vor allem in der Integration, zu sehr dem Zufall überlassen.
Aber offener Zugang reicht nicht aus. Genau so wichtig ist es, Strategiewissen zu vermitteln. Es ist wichtig, zu erfahren, welche Kommunikationswege wann den größten Erfolg bringen und es muss trainiert werden, wie diese kombiniert werden und deren Notwendigkeit anderen gegenüber plausibel gemacht werden kann.

Dieses ist natürlich nur auf der Basis eines selbstbewussten Umgangs mit der eigenen Hörschädigung erreichbar. Deshalb halte ich unabhängig von der Vermittlung des üblichen Lehrstoffs die Entwicklung und Umsetzung eines interdisziplinäres Konzeptes, wie Hörgeschädigte Bewältigungsstrategien zum Umgang mit ihrer Hörschädigung erfahren, für längst überfällig.

Es ist notwendig, dass solche Konzepte in einer Weise ausgestaltet werden, dass sie auch hörgeschädigten Schülerinnen und Schülern in der Integration zugänglich sind.


Meine Auffassungen möchte ich abschließend zusammenfassen:

  • Hörgeschädigtenpädagogik sollte technische, medizinische und pädagogische Innovationen fördern, - gleichzeitig aber nicht ausschließlich auf diese Innovationen vertrauen.
  • Hörgeschädigtenpädagogik sollte Integration anstreben, – gleichzeitig jedoch auch die Gemeinschaft hörgeschädigter Menschen stützen.
  • Hörgeschädigtenpädagogik sollte auf umfassender Basis in Zusammenarbeit mit hörgeschädigten Kolleginnen und Kollegen die Akzeptanz von Hörschädigung, den Umgang mit Hörschädigung und Strategiewissen zur Gestaltung von sehr unterschiedlichen Kommunikationssituationen des späteren sozialen und beruflichen Alltags fördern.

Der Verfasser (seit dem 2. Lebensjahr durchschnittlicher Hörverlust 90db) besuchte die Regelschule. Nach dem Abitur Studium der Rechts- und Erziehungswissenschaften. Parallel zur späteren Berufstätigkeit studierte er Hörgeschädigtenpädagogik mit anschließender Promotion. Fortbildungen vor allem im psychologischen Bereich, der Beratung und Mediation.

Beruflich zunächst bei einer Hauptfürsorgestelle tätig, danach 15 Jahre Leitung des Reha-Zentrums für Hörgeschädigte in Rendsburg. Seit 1997 als Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung bei der Landesregierung Schleswig-Holstein.

Ehrenamtlich seit 1978 Aufbau des Hörbehindertenvereines Münster mit seinem Hörbehindertenzentrum, das in Deutschland erstmals ein umfangreiches ambulantes Therapieprogramm sowohl für schwerhörige und ertaubte, als auch für gehörlose Menschen vorhielt. Aus dieser Arbeit ist auch die Bundesarbeitsgemeinschaft hörbehinderte Studenten und Absolventen hervorgegangen. Jahrlange Mitarbeit in Schwerhörigenverbänden, u.a. als Rehabilitationsbeauftragter des Deutschen Schwerhörigenbundes. 1989 bis 1999 Präsident des Deutschen Gehörlosenbundes, seit 1999 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen und Schwerhörigen. U.a. Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte und Mitglied des beratenden Ausschusses der Bundesanstalt für Arbeit.


Literatur

(1) Günther, K.-B. (2002): Veränderungen in der schulischen Betreuung Hörgeschädigter. Perspektiven aus dem Förderschwerpunkt Hören: hörgeschädigte Kinder.
Hamburg
(2) Kammerer, E. (1986): Kinderpsychiatrische Aspekte der schweren Hörschädigung. Münster
(3) PISA-Studie (2002) OECD-PISA. Programme for international student assessment. Schülerleistungen im internationalen Vergleich. Hrsg.: Kultusminister der Länder in der Bundes-republik Deutschand und Bundesministerium für Bildung und Forschung. Berlin
(4) Flöther, M. (2002): Integration – Reizwort oder Vision für die Hörgeschädigtenpädagogik: Hörgeschädigtenpädagogik. Heidelberg
(5) Empfehlungen zum Förder-
schwerpunkt Hören (1996)
Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 10. 5. 1996.
Hrsg.: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland
Zum Newsletter anmelden email